Osamu Okuda

Summary

Girl dies, to Live Again. Behind Glass Façade of Paul Klee

The Picture Glass Façade, which Paul Klee finished three months before his death, plays a key role for the material- and technology-related investigation of his entire works, since the publication of the important essay »Painting as Provocation of Material. Reflections on Paul Klee's Technique« (1990) written by the art historian Wolfgang Kersten and the fine art restorer Anne Trembley. Klee painted at first the figurative composition Girl dies, to Live Again on plaster-primed jute. Then he put on this the layer of rose-brawn pigment, to bury the image and composed with beeswax a new geometrical color field painting on the other (now front) side. The rear figurative composition has become visible only in the 1970s between the flaked layers of rose-brawn pigment, while the front-side composition decays more slowly. Between 2005 and 2015, the working process and the meaning of Glass Façade were almost exclusively in Japan in the specialist circle of Klee's art put forward for discussion. But we know still very little, if there are any integral relations between the recto and verso paintings. Now I try to explain hypothetically the intension of Klee in the contemporary historical context of his situation in exile. A possible source of Klee's inspiration for the verso composition could be Alban Berg's Violin Concerto (1935), which dedicated to »the memory of an angel«, namely Manon Gropius, wo died of polio 1935 at the age of 18. The geometrical recto painting may be then related to the modern glass façade of the Bauhaus in Dessau, built by Manon's father Walter Gropius. Klee created supposedly the pictorial time space of his autobiographic memories in connection with his career as painter and teacher of the Bauhaus.


Im März 1940, drei Monate vor seinem Tod, vollendete Paul Klee das Tafelbild Glas-Fassade, 1940, 288 (Abb.1), welches Will Grohmann zufolge »zu seinem Requiem gehört«[1]. Spätestens seit den 1980er Jahren war im engen Fachkreise bekannt, dass sich eine figurative Komposition auf der Rückseite des Bildes versteckt. Erst um 1990 wurde in der Klee-Forschung die besondere materielle Beschaffenheit des Werkes untersucht und dies initiierte die Diskussion über die kompositorische und inhaltliche Bedeutung der doppelseitigen Gestaltung. Der mögliche Zusammenhang zwischen den Vorder- und Rückseiten ist jedoch noch nicht restlos geklärt worden. In Folgenden soll nun versucht werden, den Werkprozess der Verso/Recto-Gestaltung und die damit verbundene Bildaussage im zeithistorischen und insbesondere in Klees autobiografischem Kontext zu erläutern. Wir werfen zunächst einen Blick auf die bisherigen Forschungsergebnisse in lockerer chronologischer Folge, da die Diskussionen über dieses Bild ab 2005 mehrheitlich in Japan stattfanden und im Westen wenig beachtet wurden.

 

Abb. 1: Paul Klee, Glas-Fassade, 1940, 288, Wachsfarbe auf Jute auf, Leinwand, 71,3 x 95,7 cm, Zentrum Paul Klee, Bern
© Zentrum Paul Klee, Bern, Bildarchiv

 

1. Forschungsgeschichte

1.1.Kersten/Trembley

Wolfgang Kersten und Anne Trembley haben 1990 in ihrem Aufsatz Malerei als Provokation der Materie. Überlegungen zu Paul Klees Maltechnik erstmals öffentlich darauf hingewiesen, dass sich eine bisher unbekannte Komposition auf der Rückseite vom Tafelbild Glas-Fassade befindet. Ihre Überlegungen dazu können immer noch als Grundstein der weiteren Erforschung des Bildes betrachtet werden, weshalb ich sie hier vollständig wiedergebe:

»Rein ästhetisch besticht das Bild durch seine kontrastreiche, scheinbar lichterfüllte Farbigkeit und eine solide Gitterkonstruktion, komponiert nach dem in der internationalen Geschichte der Moderne seit mindestens 1914 bewährten

Quadratbildmuster. ln der exegetischen Literatur wird ›die Glasfassade als begrenzende Wand eines Innenraumes gegen das helle Aussen‹[2] gesehen. Gedeutet wird es mit Hilfe metaphysischer Anspielungen zum Verhältnis von innerer Freiheit und außenräumlich bedingter Begrenztheit. Wie auch immer dem sei – wir können die in der Tat durch die Darstellung nahegelegte Frage, was sich denn hinter der Glasfassade befindet, auch wörtlich nehmen. Drehen wir also das Bild herum und betrachten es von der Rückseite (Abb. 2). Dort werden wir mit einem ganz anderen Problem konfrontiert: Wir sehen eine figürliche Darstellung, die zwischen den Überresten einer ruinierten Farbschicht sichtbar wird (Abb. 3). Die rosabraune Farbe, mit der Klee die Komposition übermalte, hat sich von der weißen Grundierung gelöst, zu Schüsseln zusammengezogen und ist zu etwa 30 Prozent abgebröckelt.

Abb. 2: Paul Klee, Rückseite der Glas-Fassade 1940, 288. Zentrum Paul Klee, Bern
© Zentrum Paul Klee, Bern, Bildarchiv

 

Abb. 3: Paul Klee, Glas-Fassade, 1940, 288, Rückseite, Detail, Fotograf: Patrizia Zeppetella
© Zentrum Paul Klee, Bern, Bildarchiv

Schauen wir uns nun noch einmal die Vorderseite des Gemäldes an: Dort entdecken wir in der Malschicht, verstreut über das ganze Bild, sehr viele kleine Fehlstellen in einem weißen Farbton, obwohl die Farben direkt auf die Jute aufgetragen wurden (Abb. 4). ln Klees Werkverzeichnis findet sich zur Technik die Angabe:

 

Abb. 4: Paul Klee, Glas-Fassade, 1940, 288, Detail
© Zentrum Paul Klee, Bern, Bildarchiv 

 

›Wachsfarben Jute auf Keilr. [Keilrahmen]‹.

Es ist also die rückseitige Grundierung, die in den Fehlstellen der Vorderseite durch die Jute hindurchscheint und die Wachsfarben immer mehr verdrängen wird. Der Zerfallsprozeß nahm in den siebziger Jahren, bedingt durch Klimaprobleme, die während eines Transports auftraten, seinen Anfang. Damals wurden die Fehlstellen retuschiert. Seitdem treten jedoch ständig neue hinzu. Die Vorderseite droht zu verfallen wie die Übermalung auf der Rückseite.

Wir wissen nicht, wie Klee selbst sein Bild verstanden wissen wollte. Vielleicht genügt es zu wissen, wie er bei der Arbeit an dem Bild vorging: Zuerst schuf er die Komposition auf der Rückseite. Die Grundierung reicht bis unter den Keilrahmen. Vielleicht war die Jute auf einem anderen Keilrahmen oder einer Wand befestigt. Dann überdeckte er sie mit der rosafarbenen Farbschicht. Anschließend bemalte er die ungrundierte Rückseite mit Wachsfarben und entschloß sich, die Rückseite zur neuen Vorderseite zu machen. Die Grundierung und weitere Faktoren bewirkten mit der Zeit vorne und hinten einen Zerfallsprozeß, vorne einen langsamen, hinten einen schnellen. Die Glasfassade vorne wird länger halten als die Übermalung hinten. Diegut erhaltene figürliche Komposition war ursprünglich hinter der Glasfassade und der Jute zwischen der Grundierung und der Übermalung unsichtbar verborgen. Nun inkarniert sie sich wieder – vielleicht nicht zufällig – ganz im Sinn des Titels, der auf dem originalen Keilrahmen in Klees Handschrift steht:

 

Abb. 5: Glas-Fassade, rückseitige Inschrift: »Mädchen stirbt und wird«, Fotograf: Patrizia Zeppetella
© Zentrum Paul Klee, Bern, Bildarchiv

 

›Mädchen stirbt und wird‹[3]. (Abb. 5)

Insgesamt beurteilt, drängt sich an diesem Bild wie wohl an kaum einem anderen die Frage auf, inwieweit Klee seine Werke ›für die Ewigkeit malte‹ oder ob er aufgrund seiner Provokation der Materie im Dienst der Bildaussage die Möglichkeit eines baldigen Verfalls bewußt in Kauf nahm.«[4]

Auf dieser neuen Kenntnis basierend machte Josef Helfenstein 1991 auf eine Vorarbeit für die rückseitige Komposition aufmerksam:

»Die Vorstufe, wie Klee das einfarbige Blatt Unfall (1939,1178) bezeichnete, für die verworfene Rückseite des Tafelbildes Glas-Fassade (1940, 288) datiert aus dem Vorjahr«.[5] (Abb. 6)

 

Abb. 6: Paul Klee, Unfall, 1939, 1178, Kleister- und Ölfarbe auf Papier auf Karton, 68 x 39,5 cm, Privatbesitz, Schweiz
© Zentrum Paul Klee, Bern, Bildarchiv 

 

Tatsächlich bezeichnete Klee im handschriftlich geführten Œuvrekatalog von 1939 zum Blatt Unfall zusätzliche Angaben: »Vorarbeit zu: ein Mädchen stirbt und wird«. (Abb. 7)

 

Abb. 7: Paul Klee, Œuvrekatalog von 1939, zusätzliche Angaben zum Blatt Unfall: »Vorarbeit zu: ein Mädchen stirbt und wird«, Zentrum Paul Klee, Bern
© Zentrum Paul Klee, Bern, Bildarchiv

 

 

1.2.Diskussionen in Japan

Ab 1992 wurde es in der Klee-Forschung ruhig um das Werk Glas-Fassade. Danach, ab 2005 bis heute, wurde das Bild bemerkenswerterweise fast ausschließlich in Japan in der Klee-Literatur und auch im Fernsehen wiederholt thematisiert und zur Diskussion gestellt[6], obwohl das fragile Werk[7] noch nie in dem fernöstlichen Land ausgestellt worden war.

1.2.1. Maeda/Miyashita

2005 wird das doppelseitige Werk zum Gegenstand eines langen Dialogs über Klees Schaffen zwischen den beiden japanischen Kunsthistorikern Makoto Miyashita und Fujio Maeda, in der populären Kulturzeitschrift Geijutsu-Shincho. Miyashita äußert darin die Vermutung, es könnte Klees bewusste Absicht gewesen sein, dass das verborgene Mädchen nach seinem Tod wieder in der Welt erscheinen könnte, da die Farbschichten auf der Rückseite nach und nach zerfallen würden.[8] (Abb. 8) Nach Miyashita lässt bei Klee gerade dieser sich verändernde Zustand des Werkes die Zeit erfahrbar werden, anders als bei den Futuristen oder Marcel Duchamp, die durch multiplizierte Darstellungen von Bewegungsabläufen Zeit simulierten.[9] Miyashita erweiterte seine Überlegung (zum Teil angeregt durch das Gespräch mit dem Verfasser) in seiner 2009 postum erschienenen Publikation zu Klee.[10]  

 

Abb. 8: Geijutsu Shincho, Bd. 56, Dezember 2005, S. 45
© Zentrum Paul Klee, Bern, Bildarchiv

 

Maeda interpretierte seinerseits 2006 in einem Katalogbeitrag, der anlässlich der Wanderausstellung Paul Klee. Erzählung und Schöpfung in Japan publiziert wurde, die doppelseitige Darstellung als »architektonischen Raum«:

»Glas-Fassade ist buchstäblich ein architektonisches Fenster und das Gemälde eines Glasbildes. Aus Wachsfarben auf grober Jute bestehend, laden die Bildschichten in Form einer farbigen Überflutung den Betrachter ein, hinter die Bildfläche zu schauen. Selbstverständlich handelt es sich dabei nicht um ein Fenster im Sinne Albertis, eine flächige Überschneidung, vor der der Betrachter von einem bestimmten Standpunkt aus eine lichte Welt aus Zeichnung und Farbe vermisst. Vielmehr vergegenwärtigt er sich etwas, das ›für den Geist undarstellbar, seinem Zugriff immer entzogen ist.‹[11] Dieses Fenster vielschichtiger Überlagerungen von Farbe und Stoff zwingt zur Konfrontation mit der ›immateriellen Materie‹ (Lyotard) und ist dennoch ein Erscheinungsbild des Lichts, voll von belebendem ›Halblicht‹ oder ›Halbschatten‹. Die eigentümliche Überlagerung in den Bildern Klees stellt nicht zuletzt eine neue Konstellation für die Integration von ›Bildarchitektur‹, wie Klee sagt, in den architektonischen Raum dar. Der architektonische Raum aber ist gleichbedeutend mit dem Raum des alltäglichen Lebens, oder anders gesagt, der offenen Lebenswelt.«[12]

1.2.2. Kakinuma

Fast zur gleichen Zeit veröffentlichte die japanische Klee-Forscherin Marie Kakinuma einen maßgebenden Aufsatz über »Paul Klees beidseitig bearbeitete Bilder« in der japanischen Zeitschrift Bijutsushi, wo sie es unternimmt, »Klees grundlegende Kunsttheorie, dass Werke immer im Werden begriffen seien und nicht vom statischen Gesichtspunkt des Vollendeten, sondern vielmehr in Hinblick auf den organisch-dynamischen Werkprozess verstanden werden sollten, kunsttheoretisch nachzuweisen, indem Vorder- und Rückseite der beidseitig bearbeiteten Bilder aufeinander bezogen betrachtet und systematisch analysiert werden, wobei darüber hinaus der vom Künstler proklamierte Begriff des ›dynamischen Schaffensprozesses‹ kenntlich gemacht werden soll. […] Es lässt sich annehmen, dass der durch ›Verso-Entdeckungen‹ ausgelöste Rezeptionsprozess nicht ohne Folgen für die weitere Beurteilung von Klees Gesamtwerk bleiben wird.«[13]

1.2.3. Fernsehprogramm »Museum des Labyrinths«

Im März 2008 wurde die doppelseitige Gestaltung der Glas-Fassade Thema in der Fernsehserie »Art-Entertainment - Museum des Labyrinths« der NHK (Nippon Hōsō Kyōkai: Japanische Rundfunkgesellschaft).

Ausschnitt aus dem Fernsehprogramm Museum des Labyrinths der Japan Broadcasting Corporation (NHK) Japan, 11.03.2008 Interviewpartner: Patrizia Zeppetella (Restauratorin, Zentrum Paul Klee, Bern) Dr. Wolfgang Kersten (Institut für Kunstgeschichte, Universität Zürich) Beratung: Osamu Okuda, Zentrum Paul Klee, Bern © NHK Japan und Zentrum Paul Klee, Bern, Bildarchiv Im März 2008 wurde die doppelseitige Gestaltung der Glas-Fassade Thema in der Fernsehserie " Museum des Labyrinths" der NHK in Japan.

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an diesem Quiz-Programm sollten schrittweise das Geheimnis der verborgenen rückseitigen Komposition ergründen. Zu diesem Zweck hatte im Dezember 2007 ein vierköpfiges Fernsehteam der NHK im Zentrum Paul Klee die beiden Seiten der Glas-Fassade gefilmt und dazu verschiedene Materialien gesammelt. Danach wurde der Arbeitsprozess von Klee im Atelier des Berner Malers Markus Zürcher szenisch rekonstruiert. In der Sendung wurde erstmals die Vermutung des Verfassers vorgestellt, dass die Komposition Mädchen stirbt und wird mit dem Tod von Manon Gropius in einer Verbindung stehen könnte (darüber gleich mehr). Zu sehen waren auch Interviews mit Wolfgang Kersten sowie mit Patrizia Zeppetella. 

Das Bild Glas-Fassade wurde anschließend in der von Michael Baumgartner und Simon Oberholzer kuratierten Ausstellung Paul Klee. Bewegung im Atelier, die vom 13. September 2008 bis zum 18. Januar 2009 im Zentrum Paul Klee zu sehen war, erstmals in einem speziell eingerichteten Schaukasten präsentiert, der es den Besuchern ermöglichte, das Bild von beiden Seiten zu sehen. (Abb. 9a, 9b) Bei dieser Gelegenheit wurde auch die kunsttechnologische Untersuchung, welche Patrizia Zeppetella durchführte, mit Fotos und Kommentaren vorgestellt.

Abb. 9a: Glas-Fassade in der Ausstellung »Paul Klee. Bewegung im Atelier«, Zentrum Paul Klee, 13.9.2008 bis 18.1.2009
© Zentrum Paul Klee, Bern, Bildarchiv

Abb. 9b: Glas-Fassade in der Ausstellung »Paul Klee. Bewegung im Atelier«, Zentrum Paul Klee, 13.9.2008 bis 18.1.2009
©  Zentrum Paul Klee, Bern, Bildarchiv

1.2.4. Kersten/Kakinuma

Wolfgang Kersten hielt 2011 in einem Katalogbeitrag, der anlässlich der von ihm konzipierten Ausstellung Paul Klee. Art in the making 1883–1940 in Kyoto und Tokyo publiziert wurde, zusammen mit der Co-Autorin Marie Kakinuma, rückblickend fest, dass seine und Anne Trembleys Überlegungen aus dem Jahr 1990 zu dem Bild Glas-Fassade eine bemerkenswerte Wende in der Klee-Forschung markiert hätte:

»Sobald der kreative Prozess der Bildherstellung unter pragmatischen Maximen wie ›Art in the Making‹, ›Picture-Making‹ oder ›Werkprozess‹ erforscht wird, kann ein Bild nicht mehr bloss als zweidimensionale Erscheinung verstanden werden, es wird vielmehr in seiner Bedeutung als dreidimensionales Objekt wahrgenommen.«[14]

In Hinblick auf diesen erweiterten Wahrnehmungsmodus spiele Glas-Fassade eine Schlüsselrolle. Die Schlussfolgerung des Aufsatzes von Kersten/Kakinuma lautet:

»Zusammenfassend betrachtet zeigt die Untersuchung der Recto/Verso-Gestaltung, dass Klee ein Werk als dreidimensionales Objekt konzipierte und mit ungewohnter Häufigkeit Vorder- und Rückseiten aufeinander bezog. Der hantierende Künstler verstärkte damit die Aussagekraft des Werks. Manchmal versteckte er eine heimliche Chiffre im rückseitigen Bild, womöglich mit der Absicht, dass das in tiefe Schichten seines Schaffens verborgene Geheimnis eines Tages ans Licht kommen sollte. Die Ergründung des Kunstwerks wird damit in eine unvorhersehbare Zukunft projiziert, so dass ›Art in the Making‹ für die Kunstgeschichte noch heute stattfindet.«[15]

1.2.5. Ishikawa

Anlässlich der Ausstellung Paul Klee. Spuren des Lächelns, die im Sommer 2015 im Utsunomiya Museum of Art stattfand, stellte Jun Ishikawa, der Kurator des Museums, eine eigene vertiefte Interpretation der rückseitigen Komposition Mädchen stirbt und wird vor. Der Titel erinnerte Ishikawa an die Zeilen des bekannten Goethe-Gedichts Selige Sehnsucht aus dem West-östlichen Divan: »Stirb und werde! / Bist du nur ein trüber Gast / Auf der dunklen Erde.« Dies offenbare sich, so Ishikawa, auch als Geheimnis, da das Gedicht mit der Zeile »Sagt es niemand, nur den Weisen« beginnt. Dem entsprechend erkennt Ishikawa einen Prozess von Tod und Wiedergeburt in der Komposition:

»The verso painting of Glass Façade reproduces the entire composition of Accident [Unfall], including the fermata, with certain minor alterations of detail. Yet the issue in this new context is that while the fermata can be taken to indicate a full stop, the rest or pause that it can also indicate in musical notation is no more than relative. If we look at the composition of the verso painting as a whole, the downward momentum created by the inverted falling girl reverses itself at the bottom of the painting, rising up in a form suggesting an angel with an upraised wing. In the center of the face of this angelic presence, another fermata forms a cyclopean eye. If this presence can indeed be taken as one of Klee’s angels, then perhaps it is leading the girl toward rebirth, or represents her reborn form. She is in the process of transition to her next state; or, to borrow Klee’s terminology, in the realm where the dead and the unborn coexist — just as Glass Façade is not decisively ›completed‹ but is on its way to a new life through the process of decomposition. Here, the fermata stands as a symbol of death and rebirth.«[16]

Um Ishikawas Interpretation besser verstehen zu können, möchte ich hier noch darauf hinweisen, dass die engelhafte Figur in der Verso-Komposition besonders dem im November 1939 entstandenen Blatt Engel, noch weiblich, 1939, 1016 (Abb. 10) nahesteht.

 

Abb. 10: Paul Klee, Engel, noch weiblich, 1939, 1016, Kreide auf Grundierung auf Papier auf Karton, 41,7 x 29,4 cm, Zentrum Paul Klee, Bern
© Zentrum Paul Klee, Bern, Bildarchiv

 

2. Malerei als Erinnerungs- und Projektionsraum

Was für ein Geheimnis hat Klee in der dreidimensionalen Recto/Verso-Gestaltung der Glas-Fassade verborgen? Beziehen sich die Kompositionen der beiden Seiten dieses Werkes aufeinander? Im Folgenden werde ich mich mit solchen Fragen beschäftigen, um die ›Art in the Making‹ bei Klee postum fortzusetzen.

Wenn Klees architektonischer Raum, wie Maeda formulierte, »gleichbedeutend mit dem Raum des alltäglichen Lebens, oder anders gesagt, der offenen Lebenswelt« ist, sollte dieser Raum zugleich mit Klees Lebenssituation und -welt im Jahr 1939/1940 in Zusammenhang stehen, in der das Werk Glas-Fassade entstand. So könnte man die Dreidimensionalität des Bildes noch erweitern, indem man sie mit einer zeitlichen Dimension der Erinnerung und zukünftigen Projektion verbindet. Wegen der vermeintlichen Lücken von Beweismitteln könnte dieser kontextuelle Annährungsversuch zunächst provisorisch einen gewissen Hintergrund des Arbeitsprozesses von Klee skizzieren. Doch dank der zum Teil abschweifenden Recherche über den zeithistorischen Kontext dürfte sich die bis dato in der umfangreichen Klee-Literatur fast nirgends erwähnte Geschichte um den Maler Klee in Berner Exil offenbaren. Und diese neue Kenntnis könnte uns ermöglichen, die dreidimensionale Gestaltung in einem neuen Licht zu sehen.

2.1. Manon Gropius und Alban Bergs Violinkonzert

Wir beginnen mit der oben erwähnten Bemerkung Ishikawas auf dem musikalischen Zeichen Fermata. Sie öffnet eine Möglichkeit, die rückseitige Komposition im Kontext der Musikgeschichte zu interpretieren, die auch mit den Motiven Unfall/Tod, Engel und Wiedergeburt in Verbindung gebracht werden könnte. Infrage kommt etwa Alban Bergs Violinkonzert, das – wie der Untertitel sagt – »Dem Andenken eines Engels«, nämlich der im April 1935 an Kinderlähmung verstorbenen Tochter aus Alma Mahlers zweiter Ehe mit dem Architekten und Gründer des Bauhauses Walter Gropius, gewidmet ist. Klee kannte sowohl Walter Gropius, den ehemaligen Direktor des Bauhauses (an dem er von 1921 bis 1931 zunächst in Weimar und dann ab 1926 in Dessau unterrichtete) und Manon als auch Alban Bergs letzte vollendete Komposition. Der als Schönberg-Schüler bekannte Komponist und Dirigent Winfried Zillig, der seit Februar 1933 mit Klee befreundet war, schickte Ende 1935 einen Brief an Klees Frau Lily. Darin hieß es:

»Dass Berg gestorben ist [24.12.1935], hat mich tief erschüttert. Ich liebe ihn als verehrten Freund und als einmaliges Genie, und bin gänzlich unfasslich, dass nun mit einem Male ein solches Werk, das in ihm blühte wie nie in seinen frühen Jahren, denn er hat in den zwei letzten Jahren die ganze Oper Lulu geschrieben, die fertig im Kasten liegt, und erst im Sommer ein Violinkonzert, abgeschnitten sein muss, und zu Ende. […] Mir tut auch Arnold Sch. [Schönberg] sehr leid. Es bleibt ihm der die 60 überschritten hat, wenig erspart.«[17]

Lily Klee berichtet später um 1942 nach dem Tod ihres Mannes rückblickend über Manons Mutter Alma Mahler und erwähnt auch Bergs Violinkonzert:

»Und Gropius u. dessen 1. Frau Alma die Witwe des Wiener Komponisten u. Dirigenten Gustav Mahler. Eine Wienerin sehr racig u. auffallende starke Persönlichkeit. Sie hat Gropius bei allen seinen Unternehmungen sicher immer angeregt u. aufs Beste beeinflusst: denn diese Frau hatte schöpferisch intuitive Kräfte in sich. Leider dauerte diese Ehe nicht lange. (Sie hatten eine damals [1926] 6jährige Tochter Manon. Dieselbe starb mit 18 Jahren. Alban Berg hat ihr zum Angedenken sein schönes Violinkoncert später geschrieben.«[18]

Sie wiederholt diese Erinnerung in modifizierter Form:

»Sie [Alma Mahler] war eine sehr künstlerische u. hochbegabte Frau, sehr originell u. hat Gropius immer sehr angeregt u. fortschrittlich beeinflusst. Sie hatten eine Tochter, welche später mit 18 Jahren starb. Tragisch. Der berühmte österr. Komponist Alban Berg (†) schrieb zu ihrem Andenken das Violinkoncert ›dem Andenken eines Engels‹.«[19]

Auch Paul Klee kannte Alma Mahler persönlich, wie ihr Brief an den Künstler vom Juni 1922 belegt:

»Verehrtester Meister / Ich liege im Bett mit einer veritablen Herzschwäche und bin der Freude beraubt – Sie und Ihre einzig [einzig unterstrichen] liebe Frau noch einmal zu sehen – Ihrer beider Freundschaft – die ich mir noch verdienen werde – ist mir ein grosses Glück – / Vor Ihren wunderbaren herrlichen Zeichnungen liege ich nun und kann mich nicht entscheiden – Ich lasse nun Ihnen die Wahl zwischen dem Engel und der Landschaft 117 [1917]. Diese Landschaft ist von einer unbeschreiblichen Innigkeit. / Ich danke Ihnen aus einem vollen Herzen. – Schreiben Sie mir etwas Gutes – Liebes darauf. Ihnen und Ihrer lieben Frau meine allerwärmsten Grüsse –  ihr noch einen Kuss – diesem lieben Wesen / Eure Freundin / Alma Mahler«[20]

 

Abb. 11: Walter Gropius und Tochter Manon auf der Veranda des Meisterhauses in Dessau, 1927, Fotograf: Ise Gropius
© Bauhaus-Archiv Berlin

 

Alma Mahler besaß zwei Zeichnungen von Klee: Ein Engel als Leuchter, 1921,167 und Landschaft, 1917,151. Sie schenkte die letztere später im Jahr 1950 dem Komponisten Igor Strawinsky. Lily und Paul Klee hatten wohl Gelegenheit, auch Manon Gropius persönlich kennenzulernen, als die elfjährige »Mutzi« – so Manons Kosename – erstmals von ihrer Mutter Alma getrennt im Herbst 1927 für vier Wochen im Dessauer Bauhaus bei Walter und Ise Gropius wohnte.[21] (Abb. 11) Über Manons Tod am 22. April 1935 dürften Paul und Lily Klee direkt von ihrem Vater Walter Gropius erfahren haben, als dieser im August desselben Jahres das Ehepaar in Bern besuchte. Obwohl dieser Besuch von Gropius, der seit 1934 im Exil in London lebte, soweit wir wissen, nur in einem Brief von Lily Klee an Gertrud Grohmann erwähnt ist[22], ist der Aufenthalt des ehemaligen Direktors des Bauhauses in der Schweiz im Sommer 1935 in der Gropius-Monografie von Isaacs gut dokumentiert. Demzufolge reisten Walter und Ise Gropius im August zu einem Besuch auf Schloss La Sarraz im Kanton Waadt in die Schweiz. Dort auf La Sarraz waren 1928 die CIAM (Congrès Internationaux d'Architecture Moderne) gegründet worden. »Hélène de Mandrot, die Schloβherrin und groβzügige Gönnerin, hatte in diesem August 1935 in ihrem ›Künstlerhaus‹[23] etliche CIAM-Mitglieder […] um sich versammelt, und das Treffen erbrachte eine lebhafte und ergebnisreiche Diskussion.«[24] Zum Treffen kamen neben Gropius, wie die Eintragungen ins »Livre des hôtes« der Gastgeberin, datiert auf »3/VIII – 24/VIII«, zeigen, auch Max Ernst, László Moholy-Nagy, Sigfried Giedion, und Xanti Schawinsky. (Abb. 12a, 12b) Gropius überquerte auf der Rückreise erstmals im Flugzeug den Ärmelkanal, landete am 28. August auf dem Flughafen Croydon bei London.[25] Vermutlich besuchte Gropius die Klees in Bern nach dem Künstler-Treffen in La Sarraz vor der Abreise nach England. 

Abb. 12a: Gästebuch vom Künstlerhaus in La Sarraz, 1935. A1, mit Einträgen von Xanti Schawinsy u. Walter Gropius
© Archives cantonales vaudoises, Chavannes-près-Renens

Abb. 12b: Gästebuch vom Künstlerhaus in La Sarraz, 1935. A1, mit Einträgen von László Moholy-Nagy u. Géa Augsbourg
© Archives cantonales vaudoises, Chavannes-près-Renens

Nun zurück zum Violinkonzert. Willi Reich, ein Schüler Alban Bergs, schreibt in seiner, überhaupt ersten Berg-Monografie, die 1937 erschien, ausführlich über die Entstehungsgeschichte des letzten vollendeten Werks des Komponisten:

»Nach dem er [Berg] auf Grund einer ihm von dem amerikanischen Geiger Louis Krasner im Februar 1935 zugekommenen Anregung den Plan gefaβt hatte, für Krasner ein Violinkonzert zu komponieren, zögerte er lange mit der Ausführung und war über die Form des Werks unschlüssig. Erst der Tod von Manon Gropius, der achtzehnjährigen, wunderschönen und von Berg innig geliebten Tochter Alma Maria Mahlers löste im April 1935 den entscheidenden Schaffensimpuls aus. In einem vorher nie gekannten fieberhaften Tempo konzipierte Berg in wenigen Wochen […] das ganze ›Dem Andenken eines Engels‹ gewidmete Konzert, in dessen ersten Teil er – nach seiner eigenen Aussage – Wesenszüge des jungen Mädchens in musikalische Charaktere zu übersetzen suchte, während der zweite Teil sich deutlich in Katastrophe und Lösung gliedert. Daβ diese Lösung durch einen Bachschen Choral mit den Textworten:

Es ist genug! –
Herr, wenn es dir gefällt,
So spanne mich doch aus!
Mein Jesus kommt:
Nun gute Nacht, o Welt!
Ich fahrʹ inʹs Himmelshaus,
Ich fahre sicher hin mit Frieden,
Mein groβer Jammer bleibt darnieden.
Es ist genug! Es ist genug!

herbeigeführt wird, stellt eine merkwürdige äuβere Beziehung zu den letzten Werken Bachs und Brahmsʹ her; die tiefe Bedeutung, welche gerade die Tonfolge der Worte ›Es ist genug!‹ durch die Art ihrer Einführung und Verarbeitung für das ganze Konzert erlangt hat, ist das eigentliche innere Zeugnis dafür, daβ Berg dieses Werk auch als sein eigenes Requiem gestaltete.«[26] (Abb. 13, 14)

Abb. 13: »Alban Berg (letzte Aufnahme Ende 1935)«, Foto: Franz Löwy, abgebildet in: Willi Reich, Alban Berg, Wien/Leipzig/Zürich 1937, o. S.
© Zentrum Paul Klee, Bern, Bildarchiv

Abb. 14: »Manon Gropius, deren Andenken Berg das Violinkonzert widmete«, Foto: Alma Mahler-Werfel, abgebildet in: Willi Reich, Alban Berg, Wien/Leipzig/Zürich 1937, o. S.
© Zentrum Paul Klee, Bern, Bildarchiv

Ob Klee Reichs Berg-Monografie gelesen hat, ist unbekannt. Er dürfte aber aus einer anderen Quelle über Bergs Violinkonzert informiert gewesen sein.[27] Wie in Willi Reichs Buch zu lesen ist, kam das Violinkonzert am 19. April 1936 »auf dem Musikfest der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik in Barcelona zur Uraufführung; Dirigent war Hermann Scherchen, nachdem Anton von Webern am Tage vorher abgesagt hatte.«[28]

2.2. Hermann Scherchen

Klee kannte den Dirigenten Scherchen persönlich spätestens seit der Weimarer Zeit, als dieser am 19. August 1923 anlässlich der Bauhaus-Woche unter seiner musikalischen Leitung Strawinskys Geschichte vom Soldaten und Ernst Kreneks Concerto grosso aufgeführt hatte.[29] Scherchen verließ nach der Machtergreifung Hitlers Ende Januar 1933 Deutschland, gründete neben den bunten Aktivitäten als Dirigent in Moskau, Paris, Winterthur u.a. 1935 den Musikverlag »Ars viva« für alte und neue Musik in Brüssel. Seine Frau Gustel schickte am 21. März 1935 von Winterthur eine Postkarte an Klee nach Bern, darin heißt es:

»Wir fahren diesen Sonntag gegen 9 h von Zürich mit Herrn u. Fr. Dr. Friedrich (im Auto) ab, um Ihre Ausstellung in Bern zu sehen. Werden wir Sie sehen können.«[30]

Die Scherchens kamen demnach wohl mit dem Zürcher Kunstsammler-Paar Emil und Clara Friedrich-Jezler nach Bern, um Klees Retrospektive-Ausstellung in der Kunsthalle zu sehen, die noch bis zum Sonntag, 24. März zu sehen war. Scherchen heiratete in vierter Ehe am 13. Februar 1936 in Peking die chinesische Komponistin Xiao Schuxian (Shu-hsien) und wohnte ab 1937 in Neuenburg. Wie Hansjörg Pauli attestiert, hatte sich Scherchen von 1923 bis 1950 »als Leiter des Winterthurer Stadtorchesters für schweizerische Musik eingesetzt wie nur wenige gebürtige Schweizer Dirigenten«.[31] (Abb. 15)

 

Abb. 15: Das Stadtorchester Winterthur auf der Freitreppe des Stadttheaters, Dezember 1938. Gruppenbild zum Abschied von Konzertmeister Joachim Röntgen. Stadtbibliothek Winterthur. Im Vordergrund links, mit Hut, Hermann Scherchen, neben ihm Joachim Röntgen und Scherchens Gattin Hsiao Schusien, Stadtbibliothek Winterthur
© Stadtbibliothek Winterthur

 

Wie Ju [Juliane Paula] Aichinger-Grosch schildert, die 1936 Lily Klee bei der Pflege ihres erkrankten Mannes geholfen hatte, besuchte Hermann Scherchen damals Klee in Bern mit seiner neuen Frau, »einer kleinen japanischen [sic!] Komponistin, die immer reizend und zwitschernd und höflich lachte«[32]. Ju Aichingers Erinnerung wird von Scherchens Brief an Paul Klee vom 8. Januar 1937 bestätigt. Darin heißt es: »Selbstverständlich wuerde ich gern nochmals nach Bern kommen (vielleicht am Sonntag?) wenn das einen Wert haette […]«[33]. Es ging hierbei vermutlich um die Finanzierung der von Scherchen gegründeten Zeitschrift Musica Viva, die nach drei Nummern 1937 eingestellt werden sollte. Jedenfalls ist es höchst wahrscheinlich, dass Bergs Violinkonzert, das Scherchen im April 1936 uraufgeführt hatte, im Dezember des gleichen Jahres ein Thema des Gesprächs zwischen Klee und dem Dirigenten in Bern, gewesen ist. Dies umso mehr, als Klee ein versierter Geigenspieler und trotz seiner Vorliebe für klassische Komponisten wie Bach oder Mozart ein kritischer Kenner der zeitgenössischen Musik war.[34] Scherchen dürfte Klee überhaupt damals tiefe Einsichten über Bergs Komposition vermittelt haben, nachdem er Ende Mai 1936 in einem Brief, vermutlich an Willi Reich, um eine Analyse des Konzertes gebeten hatte.[35] Reich veröffentlichte seinerseits eine Analyse des gleichen Werkes in seiner Berg-Monografie von 1937, die er unter Anleitung von Anton Webern verfasst hatte.[36] Scherchens Beziehung zu Alban Berg datiert indes weit zurück: In den 1920er Jahren fanden durch ihn zwei Uraufführungen von Bergs Kompositionen statt: Drei Bruchstücke aus Wozzeck (1924 in Frankfurt am Main) und Kammerkonzert für Klavier und Geige mit 13 Bläsern (1927 in Berlin). Im Mai 1937 schickte Scherchen eine Einladungskarte für eine internationale Arbeitstagung für Dirigenten und Interpreten in Budapest an Klee und schrieb dazu: »Könnte meine Frau evt. bei Ihnen Unterricht nehmen? Sie wünscht sich das sehr.«[37] Obzwar unbekannt ist, ob Klee Scherchens chinesische Frau unterrichtete, ist es wohl kein Zufall, dass er zu dieser Zeit Chinesin, 1937, 116 (Abb. 16) malte und dieses Motiv weiter variierte.[38]

 

Abb. 16: Paul Klee, Chinesin, 1937, 116, Kohle und Aquarell auf Grundierung auf Papier auf Karton, 24 x 17 cm, Privatbesitz, Schweiz
© Zentrum Paul Klee, Bern, Bildarchiv

 

Bevor wir zurück zum Werk Glas-Fassade kommen, fassen wir die etwas weitschweifige Vorgeschichte der rückseitigen Komposition Mädchen stirbt und wird zusammen. Klee kannte Manon Gropius, die im April 1935 verstorbene Tochter von Walter Gropius. Dieser besuchte Klee nachweislich im August 1935 in Bern. Der Maler dürfte bei dieser Gelegenheit von Manons Tod benachrichtigt worden sein. Über Alban Bergs Tod im Dezember 1935 und über dessen letzte vollendete Arbeit, das Violinkonzert, wurde Klee Ende des gleichen Jahres von Winfried Zillig informiert. Beim Gespräch mit dem Dirigenten Hermann Scherchen im Dezember 1936 in Bern konnte Klee vermutlich Näheres über die Entstehungsgeschichte und den Inhalt von Bergs Violinkonzert erfahren, das unter der Leitung von Scherchen im April des gleichen Jahres in Barcelona uraufgeführt worden war. Vor diesem persönlichen und zeithistorischen Hintergrund konzipierte Klee, so lautet meine These, Ende 1939 die Verso- und im Frühling 1940 die Recto-Komposition der Glas-Fassade.

2.3. Gitterkonstruktion

Abb. 17: Paul Klee, Œuvrekatalog von 1939, [S. 50], Ausschnitt, Zentrum Paul Klee, Bern
© Zentrum Paul Klee, Bern, Bildarchiv

Klee registrierte im handschriftlich geführten Oeuvrekatalog von 1939 insgesamt 1253 Werke – ein Jahresrekord. Er notierte darin unmittelbar nach der Zeichnung Hinweis eines Tieres, 1939,1000: »November« (Abb. 17). Demzufolge hatte Klee in den letzten zwei Monaten des Jahres 1939 die Werke mit den Nummern 1001 bis 1253 registriert. Die Zeichnung Unfall mit der Werknummer 1178 entstand wohl erst im Dezember. Da der Titel der Zeichnung und die oben erwähnte Anmerkung »Vorarbeit zu: ein Mädchen stirbt und wird« mit gleicher Tintenfarbe und Duktus geschrieben sind, liegt es nahe, dass Klee bereits damals angefangen hatte, die rückseitige Komposition Mädchen stirbt und wird zu malen. Oder noch wahrscheinlicher: sie hatte sich bereits am Endstadium befunden oder sie war schon vollendet gewesen. Im Frühjahr 1940 unterbrach Klee die Vorarbeit, indem er sie mit rosabraunen Farben übermalte und auf der Rückseite eine neue Komposition – Glas-Fassade – schuf, um diese dann im März desselben Jahres im Œuvrekatalog zu vermerken. Bei der neuen Recto-Gestaltung griff Klee auf die geometrischen Kompositionen der 1920er Jahre zurück[39], wie Harmonie E zwei, 1926,142, oder Harmonie der nördlichen Flora, 1927,144 (Abb. 18), in denen er die grundliegenden Gitterkonstruktionen unterschiedlich – mal feiner, mal gröber – gliederte. Die diagonale Teilung der einzelnen Quadrate in der Gitterstruktur geht auch auf die Arbeiten der Bauhauszeit, wie Städtebild (rot/grüne Accente), 1921,175 oder Burg und Sonne, 1928, 201 (Abb. 19) zurück. Klee hatte inzwischen diese von dem strikten vertikal-horizontalen System abweichende Gestaltungsweise in der Komposition Abend in N, 1937,138 (Abb. 20) reaktiviert. Hinter seinem Rückgriff auf die früheren Quadratbilder bei der Arbeit an Glas-Fassade verbergen sich kunsthistorisch wohl noch weitreichende Zusammenhänge.

 

Abb. 18: Paul Klee, Harmonie der nördlichen Flora, 1927, 144, Ölfarbe auf Grundierung auf Karton auf Sperrholz; originale Rahmenleisten, 51,6 x 77,2 x 6,7 cm, Zentrum Paul Klee, Bern, Schenkung Livia Klee
© Zentrum Paul Klee, Bern, Bildarchiv

 

Abb. 19: Paul Klee, Burg und Sonne, 1928, 201, Ölfarbe auf Leinwand 50 x 59 cm, Privatbesitz
© Zentrum Paul Klee, Bern, Bildarchiv

 
 

Abb. 20: Paul Klee, Abend in N, 1937, 138, Ölfarbe auf Nesseltuch, 60 x 45 cm, Privatbesitz, Schweiz/Deutschland
© Zentrum Paul Klee, Bern, Bildarchiv

 

Klee beschäftigte sich zwischen 1919 und 1922 intensiv mit dem Fenster-Motiv, vor allem im Zusammenhang mit den orphistisch-kubistischen Fensterbildern Robert Delaunays und dem romantischen Verständnis des Bildes als Ausblick durch ein Fenster. Darüber hinaus schuf Klee ab 1923 die sogenannten Quadratbilder aus rechteckigen Farbfeldern, die bald in der modernen, feingliedrigen, vor das tragende Stahlskelett gehängten Glasfassade des Dessauer Bauhauses ein architektonisches Korrelat fanden.[40] (Abb. 21a, 21b) So gesehen schuf Klee mit der Komposition Glas-Fassade eine Art autobiografischen Erinnerungsraum, in dem sich seine früheren bildkünstlerischen Innovationen mit der Baugeschichte des Bauhauses überlagerten. Und gleichzeitig evoziert der Titel, assoziiert mit den Redewendungen wie »hinter die Fassade blicken/schauen«, »was sich hinter der Fassade steckt« oder »die Fassade bröckelt«, die Neugier auf dahinter Verborgenes.

 

Abb. 21a: »bauhausgebäude / eingang zum hauptbau und querglasfront des werkstattbaues«, abgebildet in: Walter Gropius, Bauhausbauten Dessau, Bauhausbücher 12, München 1930, S. 44, Forograf: Lucia Moholy
© Atlantik, Zentrum Paul Klee, Bern, Bildarchiv

Abb. 21b »blick vom podest des haupttreppenhauses im bau der technischen ›lehranstalten‹. die lüftungsflügel sind gekuppelte drehfenster, die in jeder stellung stehen bleiben« abgebildet in: Walter Gropius, Bauhausbauten Dessau, Bauhausbücher 12, München 1930, S. 53
© Atlantik, Zentrum Paul Klee, Bern, Bildarchiv

 

(Fortsetzung folgt.)

Ich danke Rudolf Altrichter und Fred Damberger für die freundliche Unterstützung.


Endnoten

[1] Will Grohmann, Der Maler Paul Klee, Köln 1966, S. 156.

[2] Jürgen Glaesemer, Paul Klee. Die farbigen Werke im Kunstmuseum Bern. Gemälde, farbige Blätter, Hinterglasbilder und Plastiken, Bern 1976, S. 345 [Anm. von OO].

[3] Diese Schrift wurde zunächst von der Restauratorin Patrizia Zeppetella entdeckt. Zeppetella reproduzierte auch erstmals die rückseitige Fotoaufnahme der Glas-Fassade in ihrer Diplomarbeit, in der die materielle Beschaffenheit der doppelseitigen Arbeit kunsttechnologisch untersucht wurde. Vgl. Patrizia Zeppetella, Beobachtungen zur Maltechnik im Spätwerk von Paul Klee, Diplomarbeit, Typoskript, Bern 1989, S. 28f., S. 71–74.

[4] Wolfgang Kersten u. Anne Trembley, Malerei als Provokation der Materie. Überlegungen zu Paul Klees Maltechnik, in: Ausst.-Kat. Paul Klee. Das Schaffen im Todesjahr, Kunstmuseum Bern, 17.8.–4.11.1990, S. 77–91, hier S. 87.

[5] Josef Helfenstein, Vorwort, in: Paul Klee. Verzeichnis der Werke des Jahres 1940, hrsg. v. der Paul-Klee-Stiftung, bearb. von Stefan Frey u. Josef Helfenstein, Stuttgart 1991, S. 7–11, hier S. 9.

[6] Eine Ausnahme bildet die Farbanalyse der Glas-Fassade in: Gewerbemuseum Winterthur (Hrsg.), Farbpigmente, Farbstoffe, Farbgeschichten, Winterthur 2010, S. 144f.

[7] In der Datenbank »MuseumPlus« vom Zentrum Paul Klee steht dazu folgende Bemerkung: »Das Gemälde ist einerseits bedingt durch die Materialkombination und den technischen Bildaufbau extrem fragil. Sowohl Wachsfarbe wie auch Jute als Bildträger führen zu spezifischen Konservierungsproblemen. Zudem ist der knapp bemessene Gewebeüberspann der weitmaschigen und brüchigen Jute wenig belastungsfähig. Das Gemälde Glas-Fassade ist darüber hinaus durch die maltechnisch bedingte, schlechte Haftung der rückseitigen Komposition (Ölfarbe auf Jute) als besonders gefährdet einzustufen.«

[8] Vgl. Fujio Maeda u. Makoto Miyashita, Paul Klee, in: Geijutsu Shincho, Bd. 56, Dezember 2005, S. 14–80, hier S. 45. Der Dialog wurde, leicht überarbeitet im Buch Paul Klee. Kaiga no takurami [Strategie der Malerei], Tokyo 2007, wieder abgedruckt.

[9] Ebd.

[10] Vgl. Makoto Miyashita, Paul Klee. Der überschreitende Engel, Tokyo 2009, S. 131–138.

[11] Jean François Lyotard, Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit (L'inhumain. Causeries sur le temps, Paris 1988), Wien 1989, S. 158.

[12] Fujio Maeda, Überlagerungen bei Paul Klee – Alternative Poietik und Glasmalerei, in: Ausst.-Kat. Paul Klee. Erzählung und Schöpfung, Kawamura Memorial Museum of Art, Chiba, 24.6.–20.8.2006; Hokkaido Museum of Modern Art, 29.8.–9.10.2006; The Miyagi Museum of Art, Sendai, 17.10.–10.12.2006, S. 233–244, hier S. 244.

[13] Marie Kakinuma, Paul Klees beidseitig bearbeitete Bilder, in: Bijutsushi, 161, Bd. 56, Nr. 1, Oktober 2006, S. 17–30, hier Résumé, S. 2.

[14] Wolfgang Kersten, Marie Kakinuma, Recto/Verso, in: Ausst.-Kat. Paul Klee. Art in the making 1883–1940, The National Museum of Modern Art, Kyoto, 12.3.–15.5.2011; The National Museum of Modern Art, Tokyo, 31.5.–31.7.2011, S. 92–99, hier S. 92.

[15] Ebd., S. 99.

[16] Jun Ishikawa, Secret methods – The hidden dimensions of Klee's work, in: Ausst.-Kat. Paul Klee. Spuren des Lächelns, Utsunomiya Museum of Art, 5.7.–6.9.2015; Hyogo Prefectural Museum of Art, Kobe, 19.9.–23.11.2015 S. 246–250, hier S. 248.

[17] Winfried Zillig, Brief an Lily Klee, ohne Datierung [Ende Dezember 1935], Zentrum Paul Klee, Bern, Nachlass der Familie Klee. Über Klees Beziehung zu Zillig, vgl. Osamu Okuda, Paul Klee und die Komponisten seiner Zeit, in: Ausst.-Kat. Paul Klee. Melodie und Rhythmus, Zentrum Paul Klee, Bern, 9.9.–12.11.2006, S. 156–175, hier S. 162f.

[18] Lily Klee, Lebenserinnerungen, unveröffentlichte Manuskript, Zentrum Paul Klee, Bern, Schenkung Familie Klee, o. J. [um 1942], S. 54.

[19] Ebd., S. 127

[20] Brief von Alma Mahler an Paul Klee, Weimar, Juni 1922, Privat Besitz Schweiz.

[21] Vgl. Reginald R. Isaacs, Walter Gropius. Der Mensch und sein Werk, Bd. 1, Berlin 1983, S. 421f.

[22] Vgl. Brief von Lily Klee an Gertrud Grohmann, 11.09.1935, Archiv Will Grohmann, Staatsgalerie Stuttgart: »Gropius besuchte uns kurz auf d. Durchreise. Er lebt in England.«

[23] Zu »la Maison des artistes« de La Sarraz, vgl. Antoine Baudin, Hélène de Mandrot et la Maison des Artistes de la Sarraz, Lausanne 1998.

[24] Isaacs 1983, wie Anm. 22, S. 757.

[25] Ebd.

[26] Willi Reich, Alban Berg, Wien/Leipzig/Zürich 1937, S. 126f.

[27] Klee könnte Willi Reichs Artikel über Bergs Violinkonzert in der auch in der Schweiz verbreiteten österreichischen Zeitschrift Anbruch gelesen haben, vgl. Willi Reich, Requiem für Manon, in: Anbruch, 17. Jg., H. 10, Anfang Dezember 1935, S. 250–252.

[28] Ebd., S. 133. Vgl. Anonym, Österreichisches von den internationalen Veranstaltungen in Barcelona, in:  Anbruch, 168. Jg., H. 3, Mai 1936, S. 90–92: »Da, auf dem Höhepunkt, wird ein Choral von Bach ›Es ist genug‹ intoniert – und es ist sehr bezeichnend, wie sich eine zwei Jahrhunderte alte Musik zwanglos mit dieser ›Zukunftsmusik‹ Bergs vereinigt. Berg hat, als er dem Konzert diese gewiß ungewohnte Apotheose gab, an ein jetzt gerade vor Jahresfrist verewigtes Engelswesen, die achtzehnjährige Manon Gropius, gedacht. Unbewußt schrieb er sich selbst ein Requiem ... Die Zuhörer der Uraufführung hielten sich an die Leistung, es war ›ein großer Erfolg‹; aber der Dirigent Scherchen zeigte, statt sich hervorrufen zu lassen, auf die Partitur, diese letzte Partitur von Berg.« (S. 91)

[29] Vgl. Osamu Okuda, Paul Klee und die Komponisten seiner Zeit, in: Ausst.-Kat. Paul Klee. Melodie und Rhythmus, Zentrum Paul Klee, Bern, 9.9.–12.11.2006, S. 156–175.

[30] Postkarte von Gustel Scherchen an Paul Klee, 21.03.1935, Zentrum Paul Klee, Bern, Schenkung Familie Klee.

[31] Hansjörg Pauli, Dossier 769033 - Bundesfeierliche Marginalien zum 100. Geburtstag von Hermann Scherchen, in: dissonanz/dissonance, Nr. 29, August 1991, S. 8–13, hier S. 8.

[32] Ju Aichinger-Grosch, [Erinnerung an Paul Klee], in: Ludwig Grote (Hrsg.), Erinnerungen an Paul Klee, München 1959, S. 50.

[33] Brief von Hermann Scherchen an Paul Klee, 08.01.1937, Zentrum Paul Klee, Bern, Schenkung Familie Klee.

[34] Vgl. Osamu Okuda, Paul Klee und die Komponisten seiner Zeit, wie Anm. 30; Makoto Miyashita, Die neue Klassizität. Klee, Busoni und Hindemith, in: Ausst.-Kat. Paul Klee. Melodie und Rhythmus, Zentrum Paul Klee, Bern, 9.9.–12.11.2006, S. 176–197.

[35] Vgl. Hansjörg Paul und Dagmar Wünsche (Hrsg.), Hermann Scherchen Musiker 1891–1966, Berlin 1986, S. 53–55.

[36] Vgl. Reich, Alban Berg, wie Anm. 27,  S. 129–133.

[37] Einladungskarte von Hermann Scherchen an Paul Klee für eine internationale Arbeitstagung für Dirigenten und Interpreten, 03.05.1937, Zentrum Paul Klee, Bern, Schenkung Familie Klee.

[38] Vgl. Jürgen Glaesemer, Paul Klee. Die farbigen Werke im Kunstmuseum Bern. Gemälde, farbige Blätter, Hinterglasbilder und Plastiken, Bern 1976, S. 326.

[39] Vgl. Eva-Maria Triska, Die Quadratbilder Paul Klees – ein Beispiel für das Verhältnis seiner Theorie zu seinem Werk, in: Ausst.-Kat. Paul Klee. Das Werk der Jahre 1919–1933. Gemälde, Handzeichnungen, Druckgraphik, Kunsthalle Köln, 11.4.–4.6.1979, S. 45–78, hier S. 70.

[40] Vgl. Osamu Okuda, Klees Architekturfantasie und die Idee des Bauhauses. Das Gemälde Architectur m. d. Fenster, in: Ausst-.Kat. Modell Bauhaus, Martin-Gropius-Bau, Berlin, 22. 7.–4.10.2009, S. 41–44.

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